Der Sealand Brief

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Der Sealand Brief vom Mai 2003 - 1

Thema:
«Denk ich an Deutschland in der Nacht ...»


INHALT Mai 2003 [Menu nachladen]

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#1: Wohin treibt Deutschland? Ein Blick in die Zukunft - von Dr. Bruno Bandulet
EXTRA:
#2 «Die Selbstzerstörung der US-Unternehmen» von Dr. Kurt Richebächer

Nur für Mitglieder:

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#3 «Liebesgrüße aus Warschau» - Wie sich Polen zum treuen Vasallen der USA entwickelt

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Der Tag des Sieges in Europa

von Bill Bonner

"War is hell." William T. Sherman, amerikanischer Nordstaatengeneral, bevor er Atlanta nieder brannte. September, 1864.

Die menschliche Einstellung zum Krieg ist ein Puzzle von Widersprüchen. Die Leute sind oft froh, wenn ein Krieg beginnt ... aber normalerweise sind sie froher, wenn er endet. Sie hassen den Krieg, aber Kriegshelden und Heerführer werden verehrt. Natürlich wird der Unterschied zwischen einem Kriegshelden und einem Kriegsverbrecher weniger durch dessen Taten als durch den Ausgang des Krieges festgelegt.

Ich habe in der Vergangenheit schon über Kriegshelden geschrieben – über Männer, die ihre Pflicht getan haben und unseren Respekt verdienen. Heute möchte ich die Männer ehren, die genug Verstand und Mut hatten, verbrecherischen Befehlen nicht zu folgen.

Am 8. Mai 1945 feierte Paris das Ende der teuersten, brutalsten, verrücktesten kriegerischen Episode der Geschichte – des Zweiten Weltkriegs.

Die Leute tanzten am 8. Mai 1945 in den Straßen ... es spielten Bands ... die Glocken von St. Merry, der Kirche neben meinem heutigen Büro, läuteten ebenso wie die Glocken anderer Pariser Kirchen stundenlang. Von den Balkonen hingen Transparente herab, und jeder schrie die Neuigkeit heraus: "LA GUERRE EST FINI!"

Die Leute weinten auch. Einige weinten aus besonderen Gründen: Vielleicht weinten sie um einen der Menschen, der von den Nazis erschossen worden war. Für diese Opfer gibt es in Paris heute zahlreiche Plaketten, die an sie erinnern. Auf diesen Plaketten steht: "Hier ist der Platz, wo XY starb ... gestorben für Frankreich."

Vielleicht weinten einige auch wegen eines Opfers, das von der Resistance ermordet wurde, oder von den Faschisten, oder von einer der kriminellen Gangs, die im Chaos florierten. Keine Plakette erinnert an diese Leute – sie sind vergessen.

Aber die meisten Pariser weinten an diesem Tag aus Freude – aus Freude darüber, daß der Krieg endlich vorbei war.

Verglichen mit den Städten in der Normandie, und erst recht verglichen mit den Städten in Deutschland oder Rußland hatte Paris durch den Krieg relativ wenig gelitten. Frankreich hatte vor dem Krieg die größte Armee in Europa, aber diese Armee wurde bereits in den ersten Kriegstagen im offenen Feld abgeschnitten und besiegt. Die französischen Militärführer hatten nicht verstanden, daß Panzer – unterstützt durch Luftwaffe – den Kriegsablauf entscheidend beeinflussen konnten.

Die Franzosen waren schockiert und konnten es kaum glauben, daß sie so schnell militärisch verloren, und sie hatten keinen Plan zum Weiterkämpfen und keinen Plan zum Improvisieren. Statt dessen gaben sie auf und schlossen mit den Deutschen einen Waffenstillstand. Die Engländer warfen den Franzosen vor, daß sie nicht ihre Pflicht getan hätten, da sie den Kampf zu früh eingestellt hätten. Aber war das entscheidend?

Die Pariser lebten 4 Jahre unter deutscher Herrschaft. Aber die Deutschen terrorisierten die Stadt und das Land niemals in dem Ausmaß, wie sie es in Polen und Rußland taten. Die meisten deutschen Soldaten müssen glücklich gewesen sein, daß sie die Cafés in Paris genießen konnten und nicht an der Ostfront um ihr Leben kämpfen mußten.

Nachdem die Landung der Alliierten in der Normandie geglückt war (Juni 1944), war Hitler entschlossen, Paris komplett zu zerstören, bevor die Alliierten die Stadt einnehmen würden. Er übertrug den Oberbefehl über die Garnison von Paris dem General Dietrich von Choltitz.

Warum Choltitz? Weil der bereits das Bombardement gegen Rotterdam befohlen hatte und an der Belagerung von Sewastopol (Krim) beteiligt gewesen war. Nach dem Ende dieser Belagerung waren nur noch 347 seiner 4.800 Männer kampfbereit. Trotzdem schaffte er es, Sewastopol zu erobern und zu zerstören.

Choltitz hatte den Ruf, auch unangenehmen Ordern bedenkenlos zu folgen. Er war auch am deutschen Rückzug in Rußland beteiligt, und er hinterließ nur verbrannte Erde. Er hatte den Ruf des "Zerstörers", und man warf ihm sogar vor, daß er Warschau in Trümmer gelegt haben sollte. Aber das stimmt nicht – zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht einmal in Polen.

Es ist einfach, Hitler als Verrückten darzustellen und seine Nazi-Anhänger als nicht denkende Befehlsempfänger und Opportunisten. Aber es ist schwer, die aristokratischen Offiziere der Wehrmacht – von denen Choltitz einer war – zu verstehen. Diese Offiziere verachteten Hitler normalerweise – und er sie. Sie hatten sicher gesehen, daß der kleine Gefreite Deutschland in ein militärisches Desaster geführt hatte ... und daß er nicht nur verrückt, sondern auch inkompetent war.

Aber die Leute lassen sich von fast jedem Wahnsinn einnehmen, wenn er denn nur populär genug ist. Hitler war schließlich das gewählte Staatsoberhaupt. Er war der Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Diese Offiziere müssen den Willen gehabt haben, daran zu glauben, daß Hitler nicht der Wahnsinnige war, der er offensichtlich doch war. Das war der Grund, warum die Generäle sich nicht dazu durchringen konnten, den einen Mann in der Wolfsschanze – den Führer – zu töten, während die Wehrmacht in Dutzenden Ländern Tausende von Menschen tötete.

Als der Zweifrontenkrieg weiterging, wurde es immer offensichtlicher, daß Hitler nicht der Mann war, den Deutschland brauchte. Choltitz, der seine Befehle direkt von Hitler empfing, hoffte, daß der Führer die Dinge unter Kontrolle hatte. Statt dessen mußte er eine Erfahrung machen, die er als die bizarrste Erfahrung seines Lebens beschrieb.

Von Choltitz erinnerte sich, daß Hitler ihm bei einer Begegnung folgendes sagte: "Seit dem 20. Juli (an diesem Tag fand ein Attentat auf Hitler statt, verübt von Graf von Stauffenberg, der zusammen mit anderen Wehrmachtsoffizieren eine neue Regierung einsetzen wollte) haben Dutzende Generäle – ja, Dutzende – am Ende eines Seils gebaumelt, weil sie mich, Adolf Hitler, davon abhalten wollten, weiter zu arbeiten."

"Er war in einer Art fiebriger Erregung", so Choltitz weiter. "Ihm stand wirklich Schaum vor dem Mund. Er zitterte am ganzen Körper, und der Tisch, an den er sich lehnte, zitterte mit ihm. Er war schweißgebadet und wurde immer erregter."

Der Führer sagte laut Choltitz zu ihm: "Jetzt gehen Sie nach Paris. Diese Stadt muß komplett zerstört werden. Wenn die Wehrmacht abzieht, dann muß nichts übrig bleiben, keine Kirche, kein Kunstwerk." Selbst die Wasserversorgung sollte vernichtet werden, damit die "ruinierte Stadt für Epidemien anfällig sei."

"Ich war damals an dieser Stelle davon überzeugt, daß mein Gegenüber ein Verrückter war!" sagte Choltitz.

Würde Choltitz einen Befehl ausführen, der ihm von einem Verrückten gegeben wurde? Ein alter Soldat der preußischen aristokratischen Schule, Feldmarschall von Kluge, sagte zu ihm: "Ich fürchte, mein lieber Choltitz, Paris wird schwierig für Sie werden. Es hat die Luft eines Friedhofes."

"Zumindest wird es eine erstklassige Beerdigung werden", antwortete Choltitz. 6 Tage später beging von Kluge Selbstmord.

Ein paar Wochen später war Choltitz dann Befehlshaber von Paris ... und die amerikanischen und französischen Truppen standen vor der Stadt. Choltitz zeigte einen sarkastischen Sinn für Humor, als er dem Deutschen Oberkommando meldete, daß er die Kathedrale von Notre Dame und den Palais Bourbon in die Luft sprengen wolle, um frei feuern zu können (als ob es die Absicht gegeben hätte, in Paris selbst zu kämpfen!). Gegenüber seinem Stab sagte Choltitz hingegen eines Abends: "Seit unsere Feinde nicht mehr auf den Führer hören, läuft der gesamte Krieg schlecht."

Choltitz ließ dann verlautbaren, daß er nicht gegenüber der Resistance kapitulieren würde (von der etwa 20.000 Kämpfer schon in der Stadt waren, die sich Gefechte mit deutschen Truppen lieferten), sondern nur gegenüber regulären Offizieren. Als das bekannt wurde, eilten reguläre französische Truppen unter General Leclerc in die Stadt. Sie gingen direkt zum Hotel Meurice in der rue de Rivoli. Ein junger französischer Offizier platzte dann ins Zimmer von Choltitz. "Sprechen Sie Französisch", fragte er aufgeregt.

"Wahrscheinlich besser als Sie", so die Antwort von Choltitz. Er kapitulierte dann, ohne den Befehl Hitlers zur Zerstörung der Stadt zu befolgen.

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